Zu wenige Neins

Geschrieben von Berthold Glauer-Voß | Veröffentlicht in Schlei.Journal | am

Meine Frau hat sich nach 20 Jahren plötzlich mit den Worten: „Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich kann Dich nicht mehr ertragen und denke jetzt nur noch an mich“ von mir getrennt. Sie ist nicht bereit, sich mit mir auseinanderzusetzen und an unserer Beziehung zu arbeiten. Sie sagt: „Ich habe immer alles nur geschluckt, und jetzt ist es zu spät…!“ Dabei hatten wir in unserer Beziehung nie Konflikte und Streit. Alles war größtenteils harmonisch. Das kann doch wohl nicht wahr sein?

Da kann etwas nicht wahr gewesen sein. Es tut mir leid, dass Ihre Frau sich nicht mehr mit Ihnen auseinandersetzen und Ihrer Beziehung keine Chance geben möchte. Es könnte sein, dass Ihre Partnerschaft zu harmonisch und konfliktfrei verlaufen ist. Obwohl es genügend Gründe zur Auseinandersetzung zwischen Ihnen gegeben zu haben scheint. Sonst würde Ihre Frau nicht äußern, dass sie über Jahre hinweg immer nur „alles geschluckt“ hat. Vielleicht meint Ihre Frau damit, dass sie alles erduldet, tapfer ertragen und leider geschwiegen hat und nicht für ihre eigenen Interessen eingetreten ist. Manchmal macht einer sein Glück vom anderen abhängig und traut sich nicht, für seine Interessen, Ansichten, Wünsche und Gefühle einzutreten. Manchmal kommen Partner zusammen, die beide Trennungsängste haben und dadurch alles dafür tun, um Konflikte zu vermeiden. Manchmal kommen Partner zusammen, für die beide Wut und aggressive Gefühle in ihrer Ideal-Welt nicht vorkommen dürfen. Aber, wo geliebt und zusammen gelebt wird, da gibt es keine Dauerharmonie. Jeder Partner in einer Beziehung muss nach der ersten Verliebtheitsphase lernen, sich für seine eigenen Bedürfnisse auch einzusetzen. Diese Herausforderung wird eine Beziehung dauerhaft begleiten, da sich individuelle Bedürfnisse immer wieder verändern. Falls es den Partnern nicht gelingt, für ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse einzutreten, kann es irgendwann vorkommen, dass sich Paare trennen, die sich nie gestritten und voneinander abgegrenzt haben und wo „Nein“ ein Fremdwort in der Beziehung gewesen ist. Manchmal ist ein Paar sogar stolz darauf, dass sich so wenig gestritten wird. Aber zu wenige „Neins“ können die größte Gefahr für langanhaltende Partnerschaften sein. Schweigen, Schlucken und Verdrängen sind bei schwelenden Konflikten genauso giftig, wie destruktives Konfliktverhalten und mangelnde Selbstkontrolle. Zur Balance in einer Partnerschaft auf Augenhöhe gehören immer wieder Auseinandersetzung und Streit – und nicht selten auch ein klares Nein.