Kinder vertragen die Wahrheit

Geschrieben von Berthold Glauer-Voß | Veröffentlicht in Schlei.Journal | am

Wieder einmal kommt Lukas zu spät in die Schule. Dabei ist er pünktlich von zu Hause los. Ich muss wohl wieder getrödelt haben, denkt sich Lukas. Komisch, früher ist mir so etwas nie passiert. Im Klassenzimmer schaut seine Lehrerin streng und macht eine Notiz. Seine Mitschüler lachen ihn aus. Zum Glück ist gleich Sportstunde, denkt sich Lukas. Das macht mir Spaß, danach geht es mir bestimmt wieder besser. Aber mit Entsetzen muss er feststellen, dass er wieder seinen Turnbeutel vergessen hat. Verdammt. Jetzt darf ich heute nicht mitturnen. Als ein Mitschüler sich über Lukas lustig macht, reicht es ihm. Er schubst ihn heftig. Die Lehrerin schimpft Lukas aus. Lukas kann nur noch weinen und ist ganz verzweifelt.

Er schämt sich und versteht seine Welt nicht mehr. Er versteht sich selbst nicht mehr. Früher war alles in Ordnung und ihm wäre all dies nie passiert. Was anders ist, kann Lukas nicht beschreiben und einordnen. Er nimmt aber wahr, dass zu Hause etwas anders geworden ist. Er kann es ganz stark fühlen. Papa und Mama reden seit einiger Zeit anders miteinander. Papa arbeitet nur noch. Lukas sieht ihn in der Woche kaum. Nur wenn Mama Nachtdienste hat, kommt Papa früher von der Arbeit nach Hause, spielt mit Lukas und bringt ihn zu Bett. Papa sieht traurig aus. Lukas hat Papa auch gefragt, ob er traurig ist. Papa hat aber immer „Nein“ gesagt. Komisch. Am Wochenende arbeitet Papa jetzt auch. Im Büro ist wohl viel zu tun. Papa schafft es aber an Samstagen für ein paar Stunden, seine Arbeit zu unterbrechen, damit die Familie zusammen was Schönes macht. Schwimmbad, Minigolf, Kino, Tierpark und so weiter. Aber auch die Ausflüge sind anders. Sie machen keinen Spaß mehr. Es ist eine ganz komische Stimmung. Lukas strengt sich enorm an, alles richtig zu machen, damit es schön wird. Ohne Erfolg. Vor einiger Zeit hat Lukas seine Mama gefragt, ob sie geweint hat. Mama hat „Nein“ gesagt. Die Musik im Radio sei so traurig, deswegen die feuchten Augen. Sie macht auch schon seit Wochen einen nervösen Eindruck. Irgendwas stimmt hier nicht. Lukas traut sich nicht mehr, seinen Eltern Fragen zu stellen. Er spürt, dass bestimmte Fragen nicht erwünscht sind, dabei würde er so gerne wissen, ob sich seine Eltern noch lieb haben. Lukas ist durcheinander und kann sich kaum konzentrieren. Lügen seine Eltern ihn etwa an?

An Krisen wachsen

Eltern möchten immer das Beste für ihre Kinder und Leid von ihnen fernhalten. Sie stellen sich die Fragen: Was soll ein Kind wissen? Was kann es seelisch verkraften? Was soll es besser (noch) nicht wissen? Wann ist der geeignete Zeitpunkt, einem Kind eine schmerzliche Wahrheit zu sagen? Lukas Eltern haben große Angst, dass ihr Sohn zu sehr unter ihrer Trennung leiden würde. Sie wissen nicht, wie sie mit der Situation gegenüber ihrem Sohn umgehen sollen. Sie halten es zunächst für am besten, Lukas nichts zu sagen. Die Auflösung der bisherigen Familie ist für jedes Kind ein Entwicklungsrisiko. Aber genauso wie Erwachsene können Kinder an Krisen wachsen. Auch Trennungskinder können glücklich sein. Sicher ist auch, dass Kinder mehr darunter leiden, wenn ihre Eltern zusammenbleiben und Streit und Aggression den Alltag beherrschen. Wichtig ist vor allem, dass beide Eltern die Bedürfnisse des Kindes im Blick behalten und zum Wohl des Kindes kooperieren. Und am wichtigsten ist es, dem Kind die Wahrheit zu sagen. Für Lukas würde es bedeuten, dass das Aussprechen einer schmerzlichen Wirklichkeit ihm Klarheit und Gewissheit gibt, und dies erzeugt in ihm Sicherheit, Selbstvertrauen und Geborgenheit. Wie bereits erwähnt: Eltern verschweigen, um zu schützen. Doch der beste Schutz ist es, dem Kind die Sicherheit zu vermitteln, dass Eltern mit Problemen und Tatsachen umgehen können. Kinder können die Wahrheit meistens gut vertragen. Weit besser als die Unwahrheit, das Verklärte und Geheimnisvolle.